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Drücken Sie nicht den
roten Knopf! (2)
von Uwe Helmut Grave
Erster Teil – Zweiter Teil
3.
Wer mich kennt, weiß, daß ich derlei Warnungen nur zu gern
in den Wind schlage. Ganz im Gegenteil, je öfter man mir etwas verbietet,
um so stärker reizt es mich, das Verbot zu übertreten.
"DRÜCKEN SIE NICHT DEN ROTEN KNOPF!"
Erst ermahnte man mich über Funk, und kaum war ich an Bord, ging es schon
wieder los. Was glaubten die Fremden, mit wem sie es zu tun hatten? Mit einem
Kleinkind, das man nach Belieben gängeln konnte? Ich war ein erwachsener
Krovianer und hatte das Recht, freie Entscheidungen zu treffen!
Und überhaupt: Wieso befand sich ein blinkender roter Knopf an der sprechenden
Apparatur, wenn niemand darauf drücken durfte? Es fiel mir schwer, meine
drei Finger davonzulassen.
Im Hintergrund öffnete sich eine Tür. Nur kurz zog ich in Erwägung,
zu Adnohr, die sich nach dem abrupten Funkabbruch sicherlich Sorgen um mich
machte, zurückzukehren. Doch wann im Leben bot sich einem schon die einmalige
Gelegenheit, ein unbekanntes Raumschiff zu besichtigen?
Verglichen mit der Größe des Eingangsbereichs war der Raum dahinter
bestenfalls eine Besenkammer. Es sah aus wie im Wartezimmer eines krovianischen
Mediziners. An den Wänden waren unbequeme Sitzgelegenheiten befestigt,
und in der Zimmermitte wuchs ein undefinierbares Gewächs aus dem Boden.
Hinter mir schloß sich die Tür. Ich konnte nun geradeaus oder nach
links oder nach rechts weitergehen. Zudem führte ein Schwebefeld ins Stockwerk
darüber. Ich benutzte es.
Nach dem Verlassen des Feldes fand ich mich in einer Bibliothek wieder. Es
gab dort mehrere Bildschirme, Lautsprecher und Abspielgeräte sowie Unmengen
von Datenträgern.
"Herzlich willkommen in der Lesekabine", ertönte es plötzlich. "Die
Schriftzeichen auf den Datenträgern wurden in Ihre Sprache übersetzt.
Die Texte können visuell oder akustisch empfangen werden. Bei Bedarf besteht
auch die Möglichkeit, holographische Darstellungen abzurufen. Für weitere
Fragen diesen Bereich betreffend stehen wir Ihnen gern zur Verfügung."
Die Stimme schien von überallher zu kommen.
Von nun an wurde ich jedesmal freundlich begrüßt, sobald ich eine
neue Kabine betrat. Nachfolgend einige Beispiele, die ich im nachhinein aufgezeichnet
habe.
"Herzlich willkommen im Gemüsegarten. Bitte benutzen Sie den Pfad in
der Mitte, damit Sie nicht versehentlich die Setzlinge zertreten. Unsere Züchtungen
wurden Ihren Eßgewohnheiten angepaßt und können unbedenklich
von Ihnen verzehrt werden. Sie können die Wuchsgeschwindigkeit der Pflanzen
per Knopfdruck beschleunigen. Die Ernte erfolgt maschinell. Falls Sie weitere
Fragen haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an uns."
"Herzlich willkommen im Maleratelier. Hier können Sie Ihrer künstlerischen
Ader freien Lauf lassen. Waren Sie schon in der Bildhauerwerkstatt? Oder im Musikzimmer?
In letzterem können Sie sich nicht nur bei den Klängen verschiedener
Völker entspannen, es steht Ihnen auch frei, sich selbst als Musiker auszuprobieren.
Zahlreiche unterschiedliche Instrumente stehen Ihnen zur Verfügung. Weitere
Fragen
"
"Herzlich willkommen auf dem Roloballplatz. Messen Sie sich mit imaginären
Hologegnern, oder spielen Sie allein gegen die Zählmaschine. Falls Sie Fragen
"
"Herzlich willkommen in einem der zahlreichen Erholungszimmer, die für
die verschiedensten Entspannungsbedürfnisse eingerichtet wurden. Somit können
Sie immer wieder aufs neue entscheiden, in welchem Raum Sie Ihre jeweilige Ruhephase
verbringen möchten. Bei Fragen
"
"Herzlich willkommen im Spielcenter. Hier finden Sie nicht nur eine passable
Auswahl an Glücksspielautomaten, Ihnen stehen auch diverse Denk- und Geschicklichkeitsspiele
zur Verfügung, die Sie sehr schnell begreifen werden. Für Fragen
"
"Herzlich willkommen im Naturzimmer. Die Hintergrundgeräusche wurden
Tierlauten nachempfunden, die auf den unterschiedlichsten Planeten aufgezeichnet
wurden. Vielleicht kommt Ihnen ja die eine oder andere Imitation bekannt vor.
Oder Sie erkennen eines der Gewächse wieder, die wir zur Gestaltung der
Waldlichtung verwendet haben. Bei den Tieren mußten wir uns auf Holographien
beschränken - Meisterwerke der Perfektion. Sollten Sie Fragen
"
Jede Tür führte in ein neues Wunderland. Was für ein Abenteuer!
Wie ein Süchtiger hetzte ich von Kabine zu Kabine, ohne mir die Richtung
zu kennzeichnen. Einige Räume durchquerte ich doppelt, und jedesmal wurde
ich erneut von der geheimnisvollen Stimme begrüßt.
Und schließlich fand ich mich in der Zentrale wieder.
"DRÜCKEN SIE NICHT DEN ROTEN KNOPF!" schallte es mir entgegen.
Da war sie wieder, die merkwürdige Apparatur mit ihrem verführerisch
blinkenden roten Knopf. Wie magisch zog er meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Einerseits konnte ich es kaum erwarten, Adnohr von meinen aufregenden Erlebnissen
zu berichten. Ihr würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn sie sah, daß mir
nichts zugestoßen war.
Andererseits reizte es mich ungeheuer, vor dem Verlassen des außergewöhnlichen
Raumschiffs diesen verflixten Knopf zu drücken. Er ließ mir einfach
keine Ruhe. Wenigstens ein kleines bißchen berühren wollte ich ihn
ganz,
ganz vorsichtig.
Ach, was soll's?
Ich streckte meinen Mittelfinger vor und betätigte den roten Knopf. Was
war das Leben ohne ein gewisses Risiko?
Einen Augenblick später schob sich eine Wand beiseite und gab den Blick
aufs All frei.
Durch ein mächtig großes Fenster sah ich mein Raumboot und den Transportschlauch,
der ans Boot gekoppelt war. Auf dem Weg hierher, im Inneren des Schlauchs,
hatte ich das Gefühl gehabt, von Strahlen abgetastet zu werden. Wahrscheinlich
hatte die Zentralapparatur zu diesem Zeitpunkt begonnen, die Atmosphäre
und alles sonstige im Schiff auf meine speziellen Lebensbedürfnisse umzuprogrammieren.
Man wollte, daß ich mich an Bord wohlfühlte.
Mich durchfuhr ein Schreck, als ich beobachtete, wie sich der Transportschlauch
selbsttätig vom Boot löste. Offensichtlich wollte man mir den Rückweg
abschneiden.
"Hört sofort auf damit!" rief ich der Apparatur zu. "Ich
will auf der Stelle zurück zu meinem Boot, verstanden?"
Die Antwort war eindeutig:
"WIR HATTEN SIE GEWARNT!"
Der Schlauch wurde gänzlich eingefahren. Danach schloß sich der
Sichtschutz vor dem Fenster wie von Geisterhand, und das Raumschiff setzte
sich kaum merklich in Bewegung
*
Es mangelte mir an nichts auf dem Schiff.
Es gab Bars mit Roboterbedienung, Restaurants mit phantastischem Essen, ein
Theater zum Zuschauen sowie eins zum künstlerischen Mitwirken, Werkstätten,
Umkleidezimmer, diverse Möglichkeiten sportlicher Betätigung und
ein Holodeck, auf dem Bootsrennen, Raumschlachten, Wettläufe und andere
Abenteuerlichkeiten simuliert werden konnten. Für eventuelle Verletzungen
stand mir eine Robot-Medostation zur Verfügung.
Sogar eine Stimulationskabine für gewisse männliche Bedürfnisse
war vorhanden.
Auch an Körperpflege hatten die Unbekannten, die einst den Zentralapparat
programmiert hatten, gedacht. Mehrere Naßzellen waren strategisch im
Schiffsinneren verteilt worden. Meistens befanden sie sich links neben den
Ruhekammern.
Nach geraumer Weile kannte ich mich auf dem Raumschiff besser aus als in meiner
Jackentasche, so daß ich stets wußte, wie ich auf kürzestem
Wege von Punkt A nach Punkt B gelangen konnte, beziehungsweise wie viele Stockwerke
und Räume ich auf meinem Weg dorthin durchqueren mußte.
Meine anfängliche Hoffnung, irgendwann einmal einem Lebewesen zu begegnen,
war längst dahingeschwunden. Außer mir gab es hier nur Holographien
und sparsam gestaltete Robotkonstruktionen, die jeweils ausschließlich
die Funktion erfüllten, für die sie gebaut worden waren. Einige sahen
aus wie Drahtgestelle auf Rädern, andere wiederum hatte man kugelförmig
oder flach geformt. Alle waren nur mit den notwendigsten Extremitäten
ausgestattet.
Erst nach sehr, sehr vielen Zeiteinheiten fiel mir auf, daß ich nicht
alterte. Seit ich dieses Schiff betreten hatte, hatte sich mein Aussehen nicht
mehr verändert. Zudem war ich nicht ein einziges Mal krank geworden. Selbst
nach wild durchzechter Nacht plagte mich nicht die kleinste krovianische Übelkeit.
Diese Feststellung erfüllte mich mit Euphorie.
Ich war unsterblich - und befand mich mitten im Paradies, wo keiner meiner
Wünsche unerfüllt blieb.
Wann immer ich Lust verspürte, meinen geistigen Horizont zu erweitern,
durchstöberte ich die Bibliothek. Bald kam ich mir vor wie ein wichtiger
Gelehrter. Ich eignete mir enormes Wissen über fremde Völker an,
beschäftigte mich mit Wissenschaft, Technik, Psychologie und erfuhr die
verborgensten Geheimnisse des Universums. Der Sinn des Lebens war mir so klar
wie nie zuvor.
Doch was nutzte mir das alles, wenn ich nicht von diesem Schiff wegkonnte,
um meine Kenntnisse praktisch anzuwenden oder wenigstens mit anderen Gelehrten
darüber zu debattieren?
Die außen befindlichen Räumlichkeiten waren samt und sonders mit
Bullaugen ausgestattet, und auch durch die große Fensterwand in der Zentrale
präsentierte sich mir tagtäglich das unendliche Weltall.
Das Schiff bewegte sich derart langsam, daß ich manchmal das Gefühl
hatte, es würde im All stehen. Lichtpunkte von Sternen oder vielleicht
fremden Raumschiffen sah ich immer nur in der Ferne. Sobald wir den Lichtern
zu nahe kamen oder sie sich uns näherten, wechselte mein Zuhause auf nahezu
gespenstische Weise lautlos den Standort, um an einer anderen Stelle seine
unheimliche Fahrt fortzusetzen. Eine Fahrt, die kein Ziel zu haben schien.
Sagte ich gerade "mein Zuhause"? Ja, so hatte ich es anfangs tatsächlich
empfunden. Ständig hatte ich mich selbst gelobt für meinen kühnen
Entschluß, den roten Knopf zu drücken.
Inzwischen sehe ich das anders.
Wenn man unendlich lange Zeit unterwegs ist, wünscht man sich nichts sehnlicher,
als irgendwo anzukommen. Hinzu kommt die bohrende Einsamkeit, die längst
meine Seele aufgefressen hat.
Adnohr! Immer öfter muß ich an sie denken. Wie mag es ihr damals
ergangen sein?
Mittlerweile ist sie längst tot und verfault - Krovianer haben nur eine
sehr begrenzte Lebenserwartung.
Vielleicht wäre es besser, ich teilte dieses Schicksal mit ihr. Zwar kann
ich auf diesem Schiff nicht auf natürliche Weise sterben - aber ein sauberer
Stich mit einer spitzen Waffe in den Unterleib, wo das wichtigste Lebensorgan
der Krovianer pulsiert, müßte mich eigentlich von meiner ewigen
Qual befreien.
Doch wahrscheinlich finde ich nie den Mut, diesen Schritt zu gehen
4.
Pierre Galan hatte sich Rogonds akustisches Protokoll mit größtem
Interesse angehört. Nun atmete er erst einmal tief durch.
"Natürlich drücken sich die Krovianer in ihren Redewendungen völlig
anders aus als ihr Terraner", meldete sich Red zu Wort. "Wir
haben bei der Wiedergabe dennoch überwiegend terranische Formulierungen
verwendet, damit Sie das ganze besser verstehen können, Monsieur Galan.
Schade, daß Rogond seinerzeit seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Wir hätten
uns gewünscht, ihn noch eine Weile als Gast an Bord haben zu dürfen."
"Wie viele Passagiere sind schon auf diesem Schiff mitgeflogen?" erkundigte
sich der Offiziersanwärter der TF. "Habt ihr immer nur einen an Bord
gelassen? Oder waren manchmal auch Paare oder Gruppen mit darunter?"
Red schwieg.
"Dann eben nicht", knurrte Galan. "Öffne die Schleuse. Ich
kehre zurück auf die SPECTRAL und erstatte meinem Captain Bericht. Oder
bin auch ich ein Gefangener?"
"Sie können das Schiff verlassen, wann immer Sie wollen", antwortete Red. "Aber:
DRÜCKEN SIE NICHT DEN ROTEN KNOPF!"
Pierre wußte genau, was Red mit seinen eindringlichen Worten bezweckte.
Die Programmierung des Apparates wollte den fremden Besucher dazu bewegen,
sich für das ewige Leben auf diesem "paradiesischen" Raumschiff
zu entscheiden. Ein Knopfdruck genügte, und schon würde er niemals
sterben müssen, sich ständig bester Gesundheit erfreuen, und jeder
Wunsch würde ihm von den Augen abgelesen. Hinzu kam, daß er hier
mehr Wissen erlangen konnte, als jemals ein Mensch zuvor.
Allerdings konnte er das Schiff dann nie mehr verlassen. Es sei denn, auf demselben
Weg wie Rogond
und dessen mögliche Vorgänger, wie viele auch immer es bisher
gewesen sein mochten.
Nicht mit mir! dachte Pierre Galan voller Trotz. Als Soldat verfüge
ich schließlich über ein gewisses Maß an Pflichtbewußtsein.
Im übrigen will ich eines schönen Tages auf der POINT OF
mitfliegen.
Was aber, wenn er dieses hochgesteckte Karriereziel niemals erreichte? Dann
hätte er sein kurzes Leben umsonst gelebt, und man würde ihn einst
als unbedeutenden Offizier zu Grabe tragen.
Pierre hatte keine feste Freundin, nach der er sich ständig sehnen würde.
Außerdem war er Vollwaise. Gab es überhaupt irgend jemanden auf
Terra, der ihn vermissen würde?
5.
Das stundenlange Warten zerrte an Vegas' Nerven. Noch immer hatte der
Kapitän der SPECTRAL keine Rückmeldung von Pierre Galan erhalten.
Selbstverständlich hatte Roy Vegas nach einer gewissen Zeit versucht,
Galan zu folgen - dem "Ratschlag" des Marschalls zum Trotz. Doch
das zweite Schleusenschott hatte sich nicht öffnen lassen. Irgend etwas
hatte das von außen verhindert und ihm den Zugang zur Röhre versperrt.
Mittlerweile war der Captain in die Zentrale zurückgekehrt. Dort ließ er
das bizarre Raumschiff, das mit der SPECTRAL verkoppelt war, am Bildschirm
nicht aus den Augen.
Nichts rührte sich, alles blieb unverändert.
Aber dann kam von einem Augenblick auf den anderen Bewegung ins Geschehen.
Die Transportröhre koppelte sich selbsttätig vom terranischen Patrouillenraumer
ab und wurde eingefahren.
Wenige Sekunden später löste sich das fremde Schiff übergangslos
auf, als hätte es nie existiert. Erneut waren keine Gefügeerschütterungen
zu spüren.
"Scheiße!" fluchte Vegas laut und vernehmlich.
In Gedanken fügte er hinzu: Leb wohl, Pierre Galan - was immer du dort
drüben getan hast, und wo immer du jetzt sein magst.
Die beiden zur Verstärkung angeforderten S-Kreuzer trafen ein.
Ende
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