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Babylonische Verwirrung (3)

von Alfred Bekker

Erster TeilZweiter TeilDritter Teil


Sie erreichten jenes Gebäude, das sie Mammut getauft hatten.
Telmon blickte an der Ringpyramide empor.
"Hast du irgendeine Erklärung dafür?"
"Wofür, John?"
"Daß das Ding da überhaupt noch steht!"
Denninger schüttelte den Kopf. "Nein."
"Du bist doch auch Zeuge der Detonation geworden, oder?"
"Klar."
"Na also!"
Sie erreichten den Eingang. Aber der Mechanismus, um ihn zu öffnen, ließ sich nicht aktivieren.
"Ohne unsere technische Ausrüstung werden wir da nicht hineinkommen", meinte Denninger.
"Ich fürchte, da hast du recht."
"Und jetzt?"
"Da fragst du mich?" Telmon atmete tief durch. "Mel, hier stimmt etwas nicht. Diese Ringpyramide dürfte gar nicht mehr hier sein. Jedenfalls nicht in diesem Zustand. Unser Schweber..."
"Die Grakos könnten das Wrack weggeräumt haben."
"Und warum? Wenn dies ein Ort gewesen wäre, der für die Insektoiden irgendeine strategische Bedeutung gehabt hätte, so würden wir jetzt einige von ihnen hier sehen..."
"Ich bin nicht scharf darauf, ihnen zu begegnen."
"Und dann ist da immer noch die Frage, weshalb wir hier oben, an der Oberfläche sind. Ich weiß genau, daß wir in die Tiefe gefallen sind. Hunderte von Metern tief. Ich..."
John Telmon brach ab.
Sein Blick begegnete Mel Denningers ruhigen blauen Augen. Denninger nickte leicht.
"Ich weiß, was du meinst, John. Und ich habe ebensowenig Antworten auf diese Fragen wie du."
Dann wurde Denningers Aufmerksamkeit durch etwas abgelenkt.
Er starrte an John Telmon vorbei, Richtung Küste.
Er streckte die Hand aus.
"Sieh dir das an, John..."
Telmon drehte sich ebenfalls herum.
Gewaltige, wie Flugechsen wirkende Wesen ließen sich auf ausgebreiteten Flügeln durch die Luft tragen.
Telmon zählte insgesamt ein Dutzend von ihnen. Sie kamen langsam näher. Immer wieder stießen sie in die Tiefe, bis hinunter zur Wasseroberfläche. Offenbar taten sie das, um Beute zu jagen. Die Gewässer, von denen die Sechseck-Anlage umgeben war, schienen recht fischreich zu sein.
Ab und zu stießen sie kreischende Laute aus, die der leichte Wind zu Telmon und Denninger hinübertrug.
"Hast du schon einmal so etwas gesehen?" fragte Denninger.
"Nein."
"Diese Vogelwesen müssen eine Flügelspannweite von fast zehn Metern haben", schätzte Denninger. "Das bedeutet, der Körper ist weit größer als der eines Menschen...."
"So eine Spezies gibt es nicht auf Babylon."
"Jedenfalls haben wir etwas Derartiges bisher nicht entdeckt."
"Eine so große Spezies würde selbst bei oberflächlicher Erforschung eines Planeten gleich auffallen."
Der Schwarm der Flugwesen näherte sich weiter. Sie wirkten gewaltig. Ihre Schnäbel waren mit mehreren Reihen spitzer Zähne bewehrt. Die Kreischlaute, die sie ausstießen, wurden immer lauter und durchdringender.
Dann gingen sie zum Angriff über.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin flog das gesamte Dutzend dieser Flugwesen auf die beiden Menschen zu. Die ersten senkten ihre Flugbahn, stürzten sich auf Denninger und Telmon.
Ihre zahnbewehrten Schnäbel stellten gefährliche Waffen dar.
Sie stießen herab, kamen sehr nahe heran.
Telmon wich dem ersten dieser vogelartigen Ungeheuer aus. Der Stoß des spitz zulaufenden, aus hartem, hornartigen Material bestehenden Schnabels ging ins Leere. Der Vogelartige zog seine Flugbahn wieder in die Höhe, während Telmon zu Boden stürzte und sich abrollte. Er hatte den Sinn entsprechender Fallübungen, wie er sie während eines Karatekurses hatte durchführen müssen, stets bezweifelt. Jetzt war er froh darum, daß seine diesbezüglichen Reflexe wenigstens noch einigermaßen funktionierten.
Schon war der nächste Vogelartige über ihm, kam mit weit aufgerissenem Schnabel auf ihn zu. Telmon vollführte einen wuchtigen Tritt, der das Tier am Kopf traf und kreischend zur Seite fegte. Die Flugbahn wurde abgelenkt. Der Vogelartige landete ziemlich unsanft. Aber auch Telmon hatte etwas abbekommen. Die nadelspitzen Zähne hatten sein Hosenbein aufgerissen. Darunter blutete es.
Telmon war innerhalb eines Augenaufschlags wieder auf den Beinen, wich einem weiteren Vogelartigen knapp aus, der nun seine Flugbahn wieder emporzog, um dann nach einem weiten Bogen wieder auf sein Opfer zuzustoßen.
Telmon taumelte davon, hob die Arme, um sich zu schützen, als der Vogelartige ihn angriff.
Die messerscharfen Zähne ritzten seine Unterarme.
Dann bekam Telmon einen Flügel zu fassen und riß daran. Der Vogelartige flatterte wild herum, versetzte Telmon einen brutalen Stoß mit dem Schnabel und befreite sich dadurch. Telmon wurde zu Boden geschleudert. Ein höllischer Schmerz durchfuhr ihn. Der Schnabel des Vogelartigen hatte ihn etwa in Höhe des Brustbeins getroffen. Telmon rang nach Atem, keuchte, während das Kreischen der Vogelartigen die salzhaltige Luft erfüllte.
Ein weiteres Geräusch mischte sich in dieses Kreischen hinein.
Ein Geräusch, daß Telmon buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er wirbelte herum, versuchte auf die Beine zu kommen und erblickte Mel Denninger, der aus Leibeskräften schrie.
Auch er hatte sich so gut es ging gegen die Vogelartigen verteidigt. Doch jetzt hatte ihn eine der Bestien gepackt. Eines der zahnbewehrten Schnabelmäuler schnappte nach ihm, erwischte seinen Arm. Ein weiterer der Vogelartigen kam herbei und schnappte nach dem Hals.
Denningers Schrei erstarb.
Ein dritter Vogelartige senkte sich über Denninger nieder und stieß mit seiner Schnabelspitze direkt in den Bauch des Mannes hinein.
Telmon begriff, daß er für seinen Partner nichts mehr tun konnte. Er spurtete los, rannte davon, so schnell ihn seine Füße trugen.
Einer der Vogelartigen setzte zur Verfolgung an, stieß nieder und sauste in einem mörderischen Tempo auf den Terraner zu. Telmon drehte sich herum, wich aus. Er sah sich nach etwas um, daß er als Waffe benutzen konnte. Aber da war weit und breit nichts.
Er hetzte weiter, hatte schließlich das Ende der Anlage erreicht. Dahinter begann bergiges Gelände. Immer wieder drehte Telmon sich um. Das Kreischen der Vogelartigen war nicht mehr so dicht hinter ihm.
Telmon keuchte, rang nach Atem.
Offenbar hatten die Raubtiere die Verfolgung aufgegeben. Jenes Exemplar, das ihm zunächst noch nachgesetzt hatte, zog eine Kreisbahn und kehrte dann dorthin zurück, wo sich seine Artgenossen über den toten Denninger hermachten.
Jetzt bin ich allein! ging es ihm durch den Kopf.
Ganz allein.

*

Telmon verbrachte die nächsten Stunden damit, die an die Sechseckanlage angrenzenden Steilhänge hinaufzuklettern. Immer weiter arbeitete er sich nach oben vor. Er hatte eigentlich nur ein Ziel: sich so weit wie möglich von den Vogelartigen zu entfernen.
Eine Frage des Überlebens.
Noch lange hörte er ihre grausigen Schreie. Später sah er sie wieder in den Himmel steigen und auf das Meer hinausfliegen.
Telmon blickte ihnen nach.
Er gönnte sich eine Rast auf einer Art Felsenkanzel. Man hatte einen hervorragenden Blick über das umliegende Gebiet. Nebel zog vom Meer her auf, lag wie eine weiße Wand weit draußen vor der Küste. Die Dämmerung brach herein und legte sich wie graue Spinnweben über das Land. Telmon blickte zur Sechseckanlage. Vor seinem inneren Auge spulte sich wieder jene Erinnerungsschleife ab, die er nicht mehr losgeworden war. Gorris’ Tod. Immer wieder.
Warum nur? dachte er. Auf irgendeine Weise hatte sich in jenem Moment alles verändert.
Telmon versuchte sich zu konzentrieren, wollte einen vernünftigen Gedanken fassen. Aber er war müde und abgeschlagen. Der Kampf ums Überleben hatte seinen Tribut gefordert. Nicht mehr lange, und es würde dunkel werden.
Schon gingen die ersten babylonischen Monde auf. Die Sterne begannen zu blinken, soweit sie oberhalb der tiefliegenden Nebelschicht zu sehen waren.
Serena und die drei kleinen Monde leuchteten bald am Nachthimmel. Letztere nur als besonders helle Lichtpunkte, kaum von den Sternen zu unterscheiden.
Die Erkenntnis war für John Telmon wie ein Stich ins Herz.
Wo ist Sekundus? durchfuhr es ihn.
Es war unmöglich, daß bei diesen Wetterverhältnissen der zweitgrößte Mond Babylons unsichtbar blieb. Telmon blickte zur vertrauten Position am Himmel, an die er sich während der Zeit, in der er hier heimisch geworden war, instinktiv gewöhnt hatte.
Nein, es konnte keinen Zweifel geben.
Sekundus war verschwunden.
Telmon schluckte.
Warum nicht? dachte er. Das könnte die Lösung sein... er wagte es kaum, diesen Gedanken zuzulassen. Er war zu phantastisch, zu furchtbar...
Und doch – es wäre eine schlüssige Erklärung für all das gewesen, was Telmon und seinen beiden Partnern widerfahren war. Eine Erklärung für die vollkommen fremde Spezies der Vogelartigen, die nie zuvor von einem Menschen auf Babylon gesichtet worden war. Eine Erklärung für das Meer, das plötzlich weite Teile des Planeten überflutet haben mußte. Und eine Erklärung dafür, daß das Mammut noch stand, daß keine Überreste des Schweberwracks zu sehen gewesen waren und sich auch weit und breit kein Grako hatte blicken lassen.
Zeitreise...
Was, wenn die Mysterious einst auch eine Möglichkeit gefunden hatten, in der vierten Dimension zu reisen? Telmon erinnerte sich an den von einem eigenartigen Leuchten erfüllten Raum, in den er hineingesogen worden war. Vielleicht eine Art Kraftfeld, das ihn weit in die Zukunft geschleudert hatte.
In eine Zeit, die Millionen Jahre von dem entfernt sein mochte, was Telmon bis dahin als seine Gegenwart betrachtet hatte.
Sekundus, der zweite Mond...
Er mag inzwischen auf seinen Planeten gestürzt sein, dachte Telmon. Es war bekannt, daß Sekundus’ Bahn sich langsam Babylon näherte und dieser Mond vielleicht irgendwann in einer sehr fernen Zukunft auf die Oberfläche stürzen würde.
Offenbar ist das längst geschehen, dachte Telmon.
Das Auftreffen eines derart großen Himmelskörpers konnte durchaus die klimatischen Bedingungen vollkommen verändern und für gewaltige Überflutungen sorgen.
Telmon fühlte sich schwindelig.
Ein stechender Kopfschmerz machte sich hinter seinen Schläfen bemerkbar.
Er erinnerte sich daran, diesen Schmerz schon einmal gespürt zu haben.
Die Erinnerungsschleife wurde erneut in seinem Bewußtsein abgespult.
Gorris’ Tod.
Wieder und wieder.
Ein menschlicher Körper, der gegen eine Konsole geschleudert wurde.
Telmon schloß die Augen.
Es wurde ihm schwarz vor Augen.
Auch dann noch, als er die Augen längst schon wieder geöffnet hatte.

*

Das erste, was Telmon dann wieder sah, war ein Lichtpunkt, der rasch größer wurde. Gleißende Helligkeit umgab ihn, blendete ihn regelrecht.
Er stöhnte auf.
"Telmon", sagte eine Stimme.
"Wo bin ich?"
"In einem Medo-Center in der provisorischen Hauptstadt der terranischen Siedler von Babylon", war die Antwort.
Langsam bildeten sich vor Telmons Augen Konturen.
Die Umrisse eines weißgekleideten Mannes. Am Revers seiner Kombination war ein Namensschild zu sehen: Dr. Damien Latour.
"Schön, daß Sie wieder bei uns sind, Telmon. So heißen Sie doch, oder? Zumindest identifiziert Sie Ihr Irismuster mit einer Person dieses Namens."
John Telmon schluckte.
"Ja, ich bin Telmon."
"Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht..."
"Mel..."
"Sie meinen den anderen Mann, den wir in der unterirdischen Anlage unter dem Sechseck aus Ringpyramiden gefunden haben."
Telmon nickte schwach. "Ja."
"Er hat es leider nicht geschafft. Er starb vor einer Stunde bei dem Versuch, ihn aus dem künstlichen Koma wieder zu erwekken."
Telmon atmete schwer. "Aber ich habe gesehen, wie die Vogelartigen ihn..." Er stockte. "Das Meer..." flüsterte er, blickte in das Gesicht des Arztes und dachte: Was war das, was ich erlebt habe? Nur ein Traum? Das ist nicht möglich... Die Erinnerungsschleife mit Gorris’ Tod spulte sich wieder ab. Telmon schloß die Augen, um sie zu verscheuchen. Er wollte das nicht mehr sehen. Nie wieder.
"Ruhen Sie sich jetzt erst einmal aus", sagte Dr. Latour.
Telmon griff nach seinem Oberarm, hielt ihn fest.
"Nein", sagte er. "Ich möchte wissen, was geschehen ist. Jetzt!"
Latour atmete tief durch.
"Also gut", stimmte er schließlich zu. "Seit der Invasion der Grakos ist hier noch vieles in Unordnung..."
"Ich erinnere mich an ihren Angriff. Sind sie..."
"Sie sind unter großen Opfern zurückgeschlagen worden, und wir suchen jetzt überall zwischen den Trümmern nach Gestrandeten. So sind wir auch auf das Notsignal aufmerksam geworden, daß irgendeines Ihrer Instrumente abgegeben haben muß... um es kurzzumachen: Sie wurden tief unter der Erde Babylons in einer alten Mysteriousanlage gefunden, die durch einen Energieimpuls kurzzeitig wieder aktiv geworden war."
"Eine Zeitmaschine", flüsterte Telmon. Die Gesteinsschicht mußte sie zumindest teilweise vor dem Hyperraumblitz geschützt und ihre Funktionsfähigkeit erhalten haben.
"Nein", schüttelte Latour den Kopf. "Es handelte sich wohl eher um so etwas wie die Entsprechung einer interaktiven Simulation, deren Inhalt durch den Benutzer bestimmt wird, sobald er in ein Kraftfeld eintritt."
"Sie meinen, die Mysterious haben sich vor tausend Jahren damit die Zeit vertrieben?"
"Möglich. Darüber zerbrechen sich jetzt ein paar Forscher die Köpfe. Leider ist die ganze Anlage stark in Mitleidenschaft gezogen worden, und es wird wohl kaum je möglich sein, sie wieder zu reaktivieren."
"Jammerschade", meinte Telmon. "Wenn wir wüßten, wie die Mysterious sich ihre Langeweile vertrieben haben, könnten wir daraus vielleicht wertvolle Informationen über die Geheimnisvollen ziehen."
"Seien Sie lieber froh, daß Ihr Hirn den Einfluß dieses Kraftfeldes einigermaßen unbeschadet überstanden hat!"
Telmon sank in die Kissen zurück.
Er dachte an Denninger.
Und an Gorris, dessen Tod ihn in Form einer Erinnerungsschleife wohl noch eine ganze Weile begleiten würde, sofern es nicht irgendein Psychologe schaffte, ihn von diesem Gespenst zu befreien.
Und er dachte an eine Welt, in der ein fehlender Mond am Himmel und ein Meer an der falschen Stelle kein Hinweis auf einen Zeitsprung waren, sondern lediglich sichtbare Zeichen dafür, daß ein direkt auf das Bewußtsein einwirkendes Simulationssystem fehlerhaft funktionierte.
Entweder deshalb, weil sein Alter in die Jahrtausende gehen mußte.
Oder weil es einfach nicht für menschliche Hirne erschaffen worden war.
John Telmon schloß die Augen.

Ende

 
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